Autor: Reinhard Kotter | verfasst 11.07.25 | Kommentare: 0
… das mache ich später! – Prokrastination
„Aufschieberitis“ bzw. Prokrastination ist kein seltenes Verhaltensphänomen. Geschätzt ist etwa jeder zehnte Mensch davon betroffen.
Gemeint ist dabei nicht das gelegentliche Aufschieben von Entscheidungen oder Handlungen, vorübergehende Schwäche, Desinteresse oder Unlust.
Vielmehr geht es um ein chronisches, andauerndes Verhalten, das immer wieder zum Aufschieben von Aufgaben bis zum letztmöglichen Moment oder darüber hinaus führt,
obwohl die Person über genügend Kompetenzen und die nötigen Ressourcen verfügt, um rechtzeitig und planvoll zu handeln.
So gesehen handelt es sich, denke ich, um eine Verhaltensstrategie, welche die Selbststeuerung beeinträchtigt.
Systemische Betrachtung
Im systemischen Coaching geht man davon aus, dass solche Strategien entweder (meist aus dem Herkunftssystem) übernommen bzw. geprägt wurden oder aber in der eigenen Lebenserfahrung erlernt wurden. Dabei gilt die Vorannahme, dass sie in einem bestimmten Kontext nützlich waren oder noch sind.
Es kann – wie bei vielen dysfunktionalen Mustern – sinnvoll sein, die mögliche Entstehung herauszufinden. Für den Coachee macht es einen Unterschied, ob er glaubt, ein Verhalten z. B. vom Großvater übernommen zu haben, ob es Folge einer traumatischen Erfahrung ist oder ob es eine Zeit lang dafür nützlich war, besondere Aufmerksamkeit zu bekommen. Tiefsitzende Glaubenssätze (z. B. „Ich bin ein Versager“, „Ich kann nichts zustande bringen“ u. a.) können ebenso zum Aufschiebeverhalten führen. Dabei sind das nur ein paar von sehr vielen denkbaren Ursachen.

Prokrastination kann auch in Zusammenhang mit Depressionen, ADHS und psychischen Störungen auftreten, ebenso wie durch das Gefühl von Überforderung. Sehr leistungsorientierte und perfektionistisch veranlagte Menschen haben oft Probleme, Aufgaben abzuschließen, weil ihnen das Ergebnis nicht ihren Kriterien und Erwartungen entspricht. Auch Selbstsabotage – etwa durch Versagens- oder Erfolgsängste, Selbstzweifel, Schuldgefühle, Zwänge und vieles mehr.
Für den Coachee ist es oft hilfreich, die vermeintliche Ursache zu kennen. Es dient der Selbsterklärung, der inneren Begründung. Das Narrativ „Ich bin, verhalte mich so, weil …“ löst noch nicht das Problem, macht es aber verständlicher.
Man unterscheidet zwischen „Erregungsaufschiebern“, deren Strategie es ist, durch langes Aufschieben Druck/Stress zu erzeugen und so vermeintlich Kreativität und Leistungsvermögen zu gewinnen oder einen Abschluss zu erzwingen – auch eine Motivationsart. Und dann gibt es die „Vermeidungsaufschieber“, die negative Gefühle, Ängste und Belastungen vermeiden oder verdrängen wollen.
Ich vermute, dass es auch so etwas wie „Delegationsaufschieber“ gibt. Die Strategie ist dann: nicht oder sehr verzögert handeln, um andere zur Übernahme der Verantwortung zu bewegen. Auch das sogenannte Aussitzen kann nachweislich eine erfolgreiche Strategie sein.
Dysfunktionale Verhaltensmuster wie die Prokrastination mindern meist den Lebenserfolg, führen zur Selbstabwertung, zu negativem Feedback und Minderwertigkeitsgefühlen und verstärken Ängste und Zweifel. Das kann sich in einer Abwärtsspirale verstärken und zu Leid und depressiven Gefühlen führen, langfristig sicher auch zu somatischen Störungen. Deshalb ist hier professionelle Hilfe oft sinnvoll und notwendig.
Methoden zur Lösung von Prokrastination
Für den Coach mit systemisch‑konstruktivistischem Ansatz ist eine kausale Begründung und Herleitung einer Verhaltensstrategie weniger wichtig. Sein Auftrag ist es, dem Coachee zu helfen, andere, funktional bessere, wirkungsvollere Alternativen entdecken zu lassen. Wenn er diese erfolgreich einsetzt, sollten die Empfindungen von Selbstwirksamkeit, Sicherheit, Handlungskompetenz und Selbstvertrauen wieder wachsen können.
Die Aufschiebestrategie nutzen Coachees meist bevorzugt in bestimmten Kontexten – manchmal auch in bestimmten Lebensphasen. So kann z. B. jemand im Sport diszipliniert und leistungsorientiert agieren und gleichzeitig im Studium Aufgaben stetig vor sich herschieben, obwohl Kenntnisse und Intellekt ausreichend vorhanden sind. Das bedeutet, dass diese Person in zwei Lebenskontexten unterschiedliche Strategien einsetzt, aber nicht auf die Idee kommt, erfolgreiche Strategien aus dem Kontext Sport im Kontext Studium einzusetzen. Kontextübertragung von Strategien und Mustern ist ein bewährtes Tool im Coaching, weil es dem Coachee eigene Kompetenzen und Ressourcen bewusst macht und ihn motiviert, „aus eigener Kraft“ zu handeln.
Eine andere Möglichkeit ist das „Modelling“, die schnellste Form des Lernens. Kleine Kinder lernen rasend schnell, weil sie fertige, auch sehr komplexe Verhaltensmuster einfach nachahmen und adaptieren. Das können auch Erwachsene nutzen. Sie werden dann ermuntert, sich ein Vorbild zu suchen – im Fall von Prokrastination also jemanden, der meisterhaft Aufgaben zügig bewältigt. Die Frage wäre dann: Wie verhält sich dieser Mensch, wie genau geht er vor, in welchen Schritten, mit welchen Ressourcen, Strategien, mit welchen Überzeugungen und welcher Motivation ist er erfolgreich? Und dann: Was kannst du davon lernen/übernehmen/für dich nutzen? Modelling ist eine erfolgreiche Methode im Exzellenztraining und Businesscoaching.
Die Prokrastination könnte auch mit einer systemischen Strukturaufstellung betrachtet werden; ebenso können Methoden wie Glaubenssatz‑Reframing, Arbeit mit dem Inneren Team oder lösungsfokussierte und hypnosystemische Techniken eingesetzt werden. Wichtig ist, dass der Coach die Methodik wählt, die jeweils am besten zum Coachee und seinem spezifischen Veränderungswunsch passt.
Verwandte Themen